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07.10.2025
Genf
Pilotvorstellung

Genf, ein Jahr danach: Die Zwischenbilanz des Pilotprojekts

Der Übergang vom Papier zur Digitalisierung ist eine Herausforderung für die Justizwelt. Aber was bedeutet das konkret vor Ort? Und wie erleben Justizfachleute diesen Wandel? Um dies herauszufinden, haben wir Hanna Veuillet-Kala, Vizepräsidentin des Genfer Zivilgerichts, und Sandra Piticchio, leitende Gerichtsschreiberin, befragt. Seit Oktober 2024 sind sie in das Genfer Pilotprojekt involviert und geben uns Einblicke in ihre Motivation, die organisatorischen Anpassungen, die Zusammenarbeit mit den Anwältinnen und Anwälten sowie in die nächsten Schritte des Pilotprojekts.

Foto: Emeric Caron

Sie wirken seit Ende 2024 in der Kammer 20 des Zivilgerichts an der Pilotierung der Plattform justitia.swiss mit. Was hat Sie motiviert, an diesem Pilotprojekt teilzunehmen?

Hanna Veuillet-Kala (HVK): Mich hat die Gelegenheit motiviert, an einer grossen Umstellung teilzuhaben, beinahe an einer Revolution. Ich wollte aktiv dazu beitragen und die Möglichkeit haben, eigene Vorschläge einzubringen. Für mich war es eine einmalige Chance, zur Verbesserung der Behandlung von Verfahren beizutragen – insbesondere dann, wenn sie zahlreiche Akten und Eingaben umfassen –, aber auch zu prüfen, wie Zeit bei der Übermittlung von Dokumenten gewonnen werden kann, und natürlich in einem zweiten Schritt an der nächsten Projektphase, der JAA, mitzuwirken, die wir mit Spannung erwarten! Ich möchte auch hinzufügen, dass die Begeisterung meiner Gerichtsschreiberin, an diesem Abenteuer teilzunehmen, ein weiteres Argument war, um mitzumachen.

Sandra Piticchio (SP): Ich hatte schon lange von der digitalen Transformation gehört und war neugierig, mehr darüber zu erfahren. Es war eine Gelegenheit, im Voraus und ganz konkret zu entdecken, worin dieser Prozess bestehen würde, und ihn vorwegzunehmen, um mich mit den Werkzeugen vertraut zu machen. Da ich eine leitende Funktion habe, kann ich so meine Kolleginnen und Kollegen bestmöglich bei den Veränderungen begleiten, die sich daraus ergeben werden. Es war eine Chance, die man ergreifen musste. Ich entdecke sehr gerne Neues – auch wenn ich keine «Geek» bin.

Die Nutzung der Plattform hat sicher erfordert, dass Sie Ihre internen Abläufe überdenken. Was wurde in diesem Zusammenhang getan und umgesetzt?

SP: Im Rahmen des Piloten wurde mit den Anwältinnen und Anwälten eine Prozessvereinbarung geschlossen, die vorsieht, dass alle Mitteilungen sowohl über die Plattform als auch per Post erfolgen, wobei die Papierversion die offizielle Referenz bleibt. Dieser doppelte Informationsfluss in einigen ausgewählten Verfahren hat meine Arbeitsbelastung zwar etwas erhöht, aber da die für die Tests aufgewendete Zeit in meine Aufgabe als Leiterin integriert ist, konnte ich mich dem vollständig widmen.

HVK: Wir mussten uns daran anpassen, dass nur bestimmte Verfahren Teil des Piloten waren, und uns deshalb gewisse Arbeitsweisen nach einem Zeitabstand wieder in Erinnerung rufen, der vom Rhythmus des Verfahrens abhing. Dieser Pilot erlaubte uns ausserdem, an den Tests für die zukünftige Ausstattung der Gerichtssäle teilzunehmen und unsere Meinung zu den gewünschten Bildschirmtypen einzubringen.

«Wir haben von einer ausgezeichneten Begleitung profitiert, mit zwei sehr umfassenden und hilfreichen Schulungen. Ausserdem konnten wir jederzeit auf die unmittelbare Unterstützung des Projektteams und der Fachleute der Informatikdirektion zählen.»

Hanna Veuillet-Kala , Vizepräsidentin des Zivilgerichts des Kantons Genf

Nach neun Monaten Nutzung: Wie bewerten Sie die Plattform, ihre Funktionen, ihre Benutzerfreundlichkeit, ihre Weboberfläche und ihren Mehrwert für Ihre Arbeit?

SP: Der Austausch über die Plattform ist einfach, die Kommunikation schnell, und die Möglichkeit, Dokumente gleichzeitig an mehrere Empfänger zu übermitteln, ist ein grosser Pluspunkt. Darüber hinaus können die Anwältinnen und Anwälte ihre Eingaben oder Schreiben jederzeit einreichen, was ihnen eine grosse Flexibilität bei den Einreichungszeiten bietet. Die Weboberfläche erforderte zwar eine Schulung, erwies sich dann aber als sehr leicht zu handhaben. Hervorragend ist auf lange Sicht die Reduzierung der Papiermengen, die verwaltet und transportiert werden müssen, die einfachere Suche nach Dokumenten und die Entlastung von ohnehin schon überfüllten Büros im Zusammenhang mit der Lagerung. All das stellt einen offensichtlichen Vorteil dar.

Wie haben Sie Ihre Zusammenarbeit mit den Anwältinnen und Anwälten für das Pilotprojekt aufgebaut und strukturiert?

HVK: Wir haben Verfahren im Bankwesen, im Bauwesen und im Erbrecht ausgewählt, die sich über eine gewisse Zeit erstrecken und zahlreiche Schriftstücke sowie Dokumente umfassen. Das Ziel war, die Plattform so oft wie möglich zu nutzen. Wir haben das Projekt den Anwältinnen und Anwälten anschliessend in der Verhandlung vorgestellt und ihnen erklärt, dass wir in die erste Phase dessen eintraten, was uns zur vollständigen Digitalisierung führen würde. Im Allgemeinen war ihre Reaktion sehr positiv, abgesehen von der elektronischen Signatur, die mehr als einen gebremst hat. Diese anfängliche Begeisterung hat sich jedoch im Laufe der Zeit etwas abgeschwächt, insbesondere wegen der Pflicht zur Nutzung der elektronischen Signatur (ein mühsamer Prozess, der zudem langfristig nicht mehr nötig sein wird), aber auch, weil die Nutzung der Plattform ihnen rasch klar erschien.

SP: Wir konnten alle Arten von Austausch testen (Schreiben, Eingaben, Aktenstücke, Verfügungen usw.), mit einer eigens für die Anwältinnen und Anwälte vorgesehenen Unterstützung durch das Projektteam.

«Der Austausch über die Plattform ist einfach, die Kommunikation schnell, und die Möglichkeit, Dokumente gleichzeitig an mehrere Empfänger zu übermitteln, ist ein grosser Pluspunkt.»

Sandra Piticchio, Leitende Gerichtsschreiberin im Zivilgericht des Kantons Genf

Wie haben Sie sich mit der Plattform vertraut gemacht? War eine Begleitung durch das lokale Projektteam erforderlich, und wenn ja, wie ist diese verlaufen?

HVK: Wir haben von einer ausgezeichneten Begleitung profitiert, mit zwei sehr umfassenden und hilfreichen Schulungen. Ausserdem konnten wir jederzeit auf die unmittelbare Unterstützung des Projektteams und der Fachleute der Informatikdirektion zählen.

SP: Diese haben insbesondere eine Diskussionsgruppe im internen Messenger eingerichtet, in der wir Fragen stellen und Lösungen sowie bewährte Praktiken austauschen konnten. Die Teams waren sehr reaktionsschnell und boten rasch Unterstützung oder Antworten auf unsere Fragen an. Wir nahmen auch an einer wöchentlichen Informationssitzung teil, an der Richterinnen, Gerichtsschreiber, das Projektteam und die Gerichtsleitung teilnahmen, um über Updates, nächste Schritte und Erfahrungen zu sprechen.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

HVK: Ich stehe in den Startlöchern, ich freue mich darauf, voranzugehen, um die JAA zu testen und endlich Zugang zur elektronischen Akte zu erhalten. Wir sind derzeit dabei, die Arten von Verfahren zu identifizieren, die eingescannt werden können – diesmal eher im Bereich Familienrecht –, um über alle möglichen Konstellationen zu verfügen, mehr oder weniger komplexe. Wir werden uns auch Gedanken machen müssen über die Strukturierung der Verzeichnisse und die Benennung von Akten, Dokumenten, Beweismitteln usw., damit ihre Ablage künftig automatisch erfolgen kann.

SP: Wir sind begeistert, diese Entwicklung weiter voranzutreiben!

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